
Der Boom von Biokohle
Um das Businessmodell und die Technologie der Carbonauten zu verstehen, muss man sich ein wenig Zeit nehmen. So ist das eben bei einem „wicked problem“. Komplexe Herausforderungen wie der Klimawandel lassen sich nicht von heute auf morgen lösen.
Einer der Erfinder von „Fuck CO₂“ ist Torsten Becker, studierter Produktdesigner mit einem bewegten Lebenslauf, der sich heute auch als „Dreamer“ bezeichnet. Während Becker in Giengen an der Brenz – der schwäbischen Stadt, die durch die Teddybären von Margarete Steiff bekannt ist – beheimatet ist, arbeitet sein Geschäftspartner Christoph Hiemer im brandenburgischen Eberswalde. Dort hat das 2017 gegründete Start-up die erste Minus CO₂ Factory errichtet. Weitere Standorte sollen in den kommenden Jahren weltweit folgen.



Allroundwaffe Biokohle
Torsten Becker ist ein Machertyp, der, wie er selbst zugibt, gerne „den zehnten Schritt sofort machen“ möchte. Nach seinen Erfahrungen mit der Carbuna AG, einer Plattform für Produkte aus Pflanzenkohle, entdeckte er das Potenzial von Biokohle. Besonders beeindruckte ihn die „Terra Preta“ – jene mit Biokohle angereicherte Erde der indigenen Völker im Amazonasbecken in Lateinamerika, die als besonders fruchtbar und nährstoffreich gilt.
Heute bieten die Carbonauten auch Pflanzensubstrate auf Biokohlebasis für die Landwirtschaft an. Diese sind rein natürlich und wirken nicht als Dünger, sondern als Nährstoffspeicher. Doch das Potenzial der Biokohle reicht weit darüber hinaus, betont Becker. Sie bindet Kohlenstoff langfristig und kann zudem als Ausgangsstoff für Materialien wie Kunststoffe oder Zuschlagsstoffe in der Bauindustrie dienen.
Darüber hinaus entstehen bei der Produktion überschüssige Wärme sowie Pyrolyseöl – ein weiteres vielseitig einsetzbares Produkt. Für Becker ist Biokohle deshalb eine echte Allroundwaffe.

Carbon Dioxide Removal-Technologien
Fakt ist: Allein mit der Reduktion von CO₂-Emissionen wird das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht zu erreichen sein – darin sind sich die Wissenschaftler*innen des Weltklimarates IPCC einig. Notwendig sei zusätzlich der Entzug schädlicher Klimagase aus der Atmosphäre. In diesem Zusammenhang gelten „Carbon Dioxide Removal“-Technologien, kurz CDR, mit Biokohlenstoff als besonders vielversprechend.
Zum Hintergrund: Zur Kohlenstoffentnahme existiert derzeit eine Handvoll Technologien – etwa die Abscheidung von CO₂ aus Bioenergie (BECCS) oder Direct Air Capture (DACCS), bei denen das Kohlendioxid anschließend in Materialien, Ozeanen oder unterirdisch gespeichert wird. Diese Verfahren sind jedoch teils mit Risiken verbunden; so kann etwa die Speicherung in Ozeanen zur Versauerung der Meere führen.
Eine natürliche Möglichkeit ist die Aufforstung, doch auch sie stößt an Grenzen, da Landflächen knapp sind und in Konkurrenz zur landwirtschaftlichen Nutzung stehen. Biokohle hingegen bietet entscheidende Vorteile: Sie lässt sich skalierbar herstellen, bleibt über Jahrhunderte stabil und bindet das CO₂ dauerhaft – sei es im Boden oder in verschiedenen Materialien.
„Der Schlüssel liegt darin, dass die Technologie nachhaltig und günstig sein muss, sonst hat die Industrie kein Interesse an Green Technology.“
Torsten Becker,Gründer der Carbonauten GmbH
Nachhaltig und günstig
Der Schlüssel liege darin, dass die Technologie sowohl nachhaltig als auch kostengünstig sein müsse – sonst habe die Industrie kein Interesse an Green Technology, erklärt Becker. „Der günstige Preis ist der Game Changer.“ Er steht mit großen Unternehmen wie VW, Mercedes-Benz, Liebherr, Siemens, Porsche und der Deutschen Bahn in Kontakt und setzt mit ihnen Pilotprojekte um. Noch sei das Interesse der Industrie jedoch verhalten, so Becker, da bislang wenig Wissen über die Technologie vorhanden sei. Sie sei erklärungsbedürftig und liege nicht im Trend wie andere grüne Technologien – etwa Wasserstoff, den Becker augenzwinkernd „energetischer Champagner“ nennt. Anders als Wasserstoff werde Biokohle in Deutschland nicht gefördert. In China hingegen, wo die Carbonauten ebenfalls aktiv sind, sehe die Situation ganz anders aus.


Minus CO₂ Factory in Eberswalde
Mit dem Dekarbonisierungsprozess in der Minus CO₂ Factory in Eberswalde, die rund 3,6 Millionen Euro gekostet und über Kommanditkapital finanziert wurde, sollen ab Ende 2025 jährlich 10.000 Tonnen Biomasse verarbeitet werden. Das Hauptgeschäft liegt in der CDR-Technologie: Durch die Herstellung von einer Tonne Biokohle lassen sich 3,67 Tonnen CO₂ dauerhaft binden, rechnet Becker vor. Denn beim natürlichen Verrotten von Pflanzen oder Bäumen würde CO₂ freigesetzt – genau das verhindert die Umwandlung in Biokohle.
Für deren Produktion nutzen die Carbonauten das Pyrolyse-Verfahren, haben jedoch einen eigenen Ansatz entwickelt. Im sogenannten Retorten-Batch-Verfahren wird Biomasse – etwa Reststoffe aus der Holzindustrie – bei Temperaturen von rund 400 bis 700 Grad Celsius unter Ausschluss von Sauerstoff zu Biokohle umgewandelt. Der Prozess dauert sechs bis acht Stunden und findet in sieben Kubikmeter großen Stahlbehältern statt, in die die Biomasse eingefüllt und anschließend durch das Synthesegas exotherm erhitzt wird.
Hidden Champion Pyrolyseöl
Neben der Biokohle, die trocken aus dem Prozess hervorgeht und optisch einem Stück Holzkohle ähnelt, entstehen zudem jeweils zu einem Drittel Synthesegas und Pyrolyseöl. Alle drei Komponenten lassen sich vielseitig als Vorprodukte einsetzen. Das Synthesegas dient unter anderem der Wärmezufuhr in der Produktion und erzeugt dabei zusätzlich überschüssige Wärme, die beispielsweise ins Fernwärmenetz eingespeist werden kann. Das Pyrolyseöl bezeichnet Torsten Becker als einen „Hidden Champion“. Es könne für zahlreiche Anwendungen in der Lebensmittelherstellung, Pharmazie oder Medizin genutzt werden – etwa für Aromen oder auch zur Herstellung von Acryl.

„Warum Teile um die halbe Welt verschiffen, wenn man alles an einem Ort produzieren kann?“
– Torsten Becker, Gründer der Carbonauten GmbH
Pilotprojekt mit der Deutschen Bahn
Alle mit Biokohlenstoff angereicherten Materialien bündeln die Carbonauten unter dem Namen NET Materials. Im aktuellen Schwerpunkt, dem Kunststoff, mischen sie bis zu 50 Prozent Biokohle in Kunststoffgranulate. Das daraus entstehende schwarze Compound reduziert den Einsatz fossiler Materialien und ist damit besonders klimafreundlich. Aus diesem Biokohlen-Kunststoff-Compound haben die Carbonauten bereits ein Pilotprojekt mit der Deutschen Bahn realisiert: eine Sitzschale für den ICE sowie einen Koffer für DB-Mitarbeitende. Die Materialeigenschaften überzeugten, betont Torsten Becker: Das Compound sei äußerst stabil, sehr leicht und zudem geruchsabsorbierend.
Becker schwärmt von den Perspektiven: Künftig könnten die Carbonauten Halbfertigteile für die Industrie wie auch eigene Produkte direkt selbst herstellen – etwa mit Spritzgussmaschinen. „Das ist gar nicht so kompliziert. Warum Teile um die halbe Welt verschiffen, wenn man alles an einem Ort produzieren kann?“
Weltweiter Wachstumsmarkt
Der Markt für Biokohle komme gerade erst in Schwung, berichtet Becker. Laut einer Analyse der Beratungsagentur McKinsey vom Dezember 2023 könnte eine CDR-Branche, die in der Lage ist, Gigatonnen an CO₂ auf Netto-Null-Niveau zu entfernen, bis 2050 einen Wert von bis zu 1,2 Billionen US-Dollar erreichen. Im Mai 2025 schloss Microsoft mit dem großen Dekarbonisierer Exomad Green in Bolivien den bislang weltweit größten Biokohle-Deal ab, um seine CO₂-Ziele zu verwirklichen.
Während die USA und die Länder des Asien-Pazifik-Raums derzeit am stärksten in Biokohle-Technologien investieren, treten auch in Europa und Deutschland zunehmend Anbieter auf den Plan – wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. So setzt etwa das Hamburger Cleantech-Start-up Novocarbo auf Emissionszertifikate, während die Berliner Firma EcoLocked Biokohle in gebrauchsfertigen Beton einmischt.
Weniger Bürokratie in China
Eigentlich sei die Fabrik in Eberswalde mit rund 3.200 Quadratmetern schon jetzt zu klein, so Becker. Geplant seien bis zu zwölf Standorte weltweit, denn das Geschäft sei stark regional geprägt. Müsse die Biomasse über mehr als 100 Kilometer transportiert werden, sei die CO₂-Bilanz dahin. In Chibi, in der chinesischen Provinz Hubei, entstehe seit 2023 die zweite Fabrik mit einer Kapazität von 200.000 Tonnen Altbambus pro Jahr. Torsten Becker verfüge über gute Kontakte nach China, der Staat werde die Fabrik fördern. Besonders begeistert zeigt sich Becker von der unkomplizierten Bürokratie vor Ort. Doch auch in Deutschland eröffnen sich neue Perspektiven: So bekundet die Stadt Giengen an der Brenz Interesse an einer Anlage der Carbonauten, da sie die überschüssige Wärme aus der Produktion nutzen möchte.



