
Der Ort als Ressource
Über Jahrzehnte hinweg war die Architektur ein Spiegel globaler Trends. Die Skyline von Singapur unterschied sich kaum von jener in London, Dubai oder Frankfurt. Materialien wie Stahl, Glas und Beton wurden zu universellen Konstanten, die formale Sprache glich sich über Kontinente hinweg an. Was einerseits den Austausch von Ideen beförderte, führte andererseits zu einer gewissen Beliebigkeit: Städte verloren an Eigenart, historische Bezüge verschwanden hinter anonymen Oberflächen, das Klima und die Topografie spielten kaum noch eine Rolle.
Doch inzwischen wächst der Widerstand gegen diese Homogenisierung. Immer mehr Architektinnen und Architekten suchen nach Wegen, den Ort nicht nur als Bauplatz, sondern als Quelle zu begreifen. Das Interesse richtet sich auf die kulturellen und geografischen Eigenheiten, auf die Schichten der Geschichte, auf die Materialien, die vor Ort verfügbar sind – und auf die Frage, wie all das in zeitgenössische Formen übersetzt werden kann.
Diese Entwicklung ist kein nostalgischer Rückgriff, sondern eine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Der Klimawandel zwingt dazu, Ressourcen verantwortungsvoll einzusetzen. Gesellschaftliche Veränderungen verlangen nach einer Architektur, die Identität stiftet und lokale Gemeinschaften stärkt. Und nicht zuletzt wächst das Bedürfnis nach Gebäuden, die sich in ihre Umgebung einfügen, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren.
Genau an dieser Schnittstelle entsteht, was heute unter „Contextual Architecture“ verstanden werden. kann: eine Architektur, die den Genius loci nicht dekorativ aufgreift, sondern aktiv weiterschreibt – und damit ein neues Verhältnis von Ort und Bauwerk etabliert.

Architektur, die Wurzeln schlägt oder Topografie als Entwurfsprinzip
Die Landschaft ist weit mehr als ein Hintergrund, vor dem Architektur inszeniert wird. In vielen zeitgenössischen Projekten wird sie zum eigentlichen Ausgangspunkt des Entwurfs. Topografie, Vegetation und geologische Bedingungen sind dabei nicht Hindernisse, die überwunden werden müssen, sondern Ressourcen, die Form, Material und Raum prägen. Ein Beispiel dafür ist der von Lendarchitektur errichtete Weinkeller Trifolium im slowenischen Goriška Brda. Er wächst nicht aufgesetzt in die Weinlandschaft, sondern aus ihr heraus. Die kleeblattförmige Grundfigur folgt den natürlichen Linien des Hügels, das brüchige Flysch-Gestein wird sichtbar und bleibt als prägendes Element erhalten. Statt massiver Erdbewegungen und technischer Aufrüstung setzten die Architekten auf ein minimalinvasives Pfahlsystem, das das Gelände trägt, ohne es zu zerstören. Das Ergebnis ist ein Bauwerk, das gerade durch seine Zurückhaltung eine enorme Präsenz entwickelt – ein Stück Architektur, das mit dem Ort verschmilzt und ihn zugleich neu erzählt.
Noch deutlicher zeigt sich die kulturelle Dimension dieses Dialogs in der Tekâkāpimək Contact Station in Maine. Das Büro Saunders Architecture hat hier in enger Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften eine Architektur geschaffen, die Natur und Narration untrennbar verbindet. Die hölzerne Struktur ist nicht nur ein Besucherzentrum, sondern eine Schnittstelle zwischen Landschaft, Tradition und Gegenwart. Sie vermittelt Wissen, bewahrt Geschichten und übersetzt die spirituelle Bedeutung des Ortes in eine gebaute Form. Damit wird Architektur selbst zu einem Medium, das Brücken schlägt – zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen menschlichem Eingriff und natürlichem Wachstum.


„Contextual Architecture: eine Architektur, die den Genius loci nicht dekorativ aufgreift, sondern aktiv weiterschreibt – und damit ein neues Verhältnis von Ort und Bauwerk etabliert.”
Die Vergangenheit als wertvolle Ressource betrachten
Die gebaute Geschichte ist ein kulturelles Kapital, das sich nicht reproduzieren lässt. Mauern, Patina, Raumfolgen oder industrielle Relikte sind Träger von Erinnerung und Identität – Qualitäten, die ein Neubau nicht erzeugen kann. Immer deutlicher zeigt sich daher der Anspruch, Vorhandenes nicht zu verdrängen, sondern es in zeitgemäße Kontexte zu transformieren. Das Jingyang Camphor Court in Jingdezhen, China, ist ein Beispiel für diese Haltung. Aus einem ehemaligen Porzellanwerk entwickelte Vector Architects ein Hotelkomplex, der nicht nur die Bausubstanz bewahrt, sondern auch die jahrzehntealten Kampferbäume als zentrales Entwurfselement integriert. Die Begegnung von historischen Backsteinmauern mit neuen Baukörpern aus Terrakotta, Beton und Recyclingmaterialien eröffnet einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart-Architektur als Weiterführung statt als Auslöschung. Ähnlich konsequent wurde das Stadthaus Fink in Brixen saniert. Jahrhundertealte Steinmauern und Gewölbe wurden freigelegt und als räumliche Protagonisten inszeniert. Der Eingriff beschränkt sich auf das Notwendige, wodurch ein Dialog zwischen klösterlicher Strenge der Vergangenheit und zeitgenössischer Reduktion entsteht.


Verdichtung: ja, aber mit Verantwortung
Doch Bauen im Bestand bedeutet nicht ausschließlich Sanierung. Auch Neubauten wie das Museum of Modern Art in Warschau von Thomas Phifer and Partners knüpfen an diese Haltung an. 2024 eröffnet, versteht sich das Haus nicht als spektakulärer Solitär, sondern als kultureller Baustein, der das bestehende urbane Gefüge ergänzt und eine Brücke zur Stadt schlägt. Selbst temporäre Architekturen wie der ArtPlayPavillon in London beweisen, dass Weiterbauen viele Gesichter haben kann. Der Pavillon ergänzt die historische Dulwich Picture Gallery um ein zeitgenössisches, spielerisches Element, das mit Leichtigkeit neue Nutzungen ermöglicht, ohne den Bestand zu überlagern.
In wachsenden Städten stellt sich die Frage nach der Dichte. Oft führt sie zu maximaler Ausnutzung des Bodens und damit zu Verlust von Qualität. Dass es auch anders geht, zeigt das Hochhaus Ferrocarril de Cuernavaca 780 in Mexiko-Stadt. Anstatt jeden Quadratmeter zu bebauen, gaben die Architekten einen Teil der Fläche an die Stadt zurück – als Erweiterung eines angrenzenden Parks. Der Turm selbst greift die klassische Hochhaustypologie auf, verweist mit seiner Stahlstruktur auf die industrielle Vergangenheit und aktiviert mit Erdgeschossnutzungen das Quartier. Verdichtung wird hier zum Mittel, den Kontext zu bereichern, statt ihn zu zerstören. Ähnlich versteht sich das Großprojekt der Sydney-Metro-Stationen, die 2024 fertiggestellt wurden. Anstatt bloß Infrastruktur zu sein, wurden die Stationen als urbane Räume gestaltet, die Mobilität, Öffentlichkeit und Nachbarschaft gleichermaßen fördern. Wir sehen hier: Verdichtung kann zu einem Motor für mehr Lebensqualität werden!


Weiterbauen statt neu erfinden
Spätestens in der Zusammenschau vieler der genannten Projekte – etwa im Rahmen der ICONIC AWARDS 2025 – wird klar, dass „Contextual Architecture“ kein Stil, sondern eine Haltung ist. Sie befreit sich von der Eitelkeit der Autorenhandschrift und widmet sich dem Zusammenspiel von Natur, Geschichte und Material zu einem Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Statt Orte auszublenden oder zu überformen, geht es darum, sie weiterzubauen. Herausragende Beispiele überzeugen uns, Architektur als Identität stiftendesMedium zu verstehen, das Kontinuität wahrt und behutsam neue Räume eröffnet.

Über die ICONIC AWARDS

Mehr Sichtbarkeit, mehr Chancen – die neuen ICONIC AWARDS bieten eine Bühne für die Ideen und Projekte von morgen. Entfalten Netzwerk- und Business-Möglichkeiten und ebnen Wege zu neuen Märkten. Sie richten sich an Architekt*innen, Designer*innen und Unternehmen, die mit visionären Projekten, innovativen Produkten und nachhaltigen Konzepten die Zukunft mitgestalten.


