Das Magazin des German Design Council
Eine Wendeltreppe führt hinauf auf die Dachterrasse, die auch von außen jederzeit zugänglich ist Foto: Nicolas Torrence
Vestre

Perspektivwechsel im urbanen Raum

PorträtArchitekturNachhaltigkeit
Möbel für den öffentlichen und halböffentlichen Bereich prägen unsere Begegnungen auf Plätzen und in Parks. Die norwegische Marke Vestre fördert mit ihrem Portfolio die demokratische Aneignung von Stadträumen, macht sie lebenswerter – und setzt mit der Fabrik „The Plus“ einen neuen Maßstab für nachhaltige Architektur.

Skurril mutet es an, das riesige Gebäude mit seiner schwarzen Holzfassade. Wie ein Raumschiff, das mitten im Wald gelandet ist. Um genauer zu sein: am Rande der norwegischen Gemeinde Magnor. Seit 2022 ist das „The Plus” Hauptsitz, Werk und Anlaufstelle für Besuchende des Familienunternehmens Vestre, geplant und realisiert vom dänischen Architekturbüro BIG (Bjarke Ingels Group). Hierher kommt, wer sich für die Herkunft ikonischer Stadtmöbel interessiert, die in Norwegen jede*r und im nahegelegenen Schweden mindestens ein Großteil der Menschen kennt. Oder wer erfahren will, wie man eine Produktionsstätte errichtet, die so transparent und nachhaltig wirtschaftet wie keine zweite weltweit.

Die umweltfreundlichste Möbelfabrik der Welt

„The Plus“ ist als Beitrag zu einer klimaneutralen Zukunft zu verstehen – als Vorbild für verschiedene Industrien, die sich in den kommenden Jahren im Grunde dieselben Fragen stellen müssen: Wie wegkommen von den klimaschädlichen Emissionen? Und: Wie wirtschaftlich wachsen, ohne einen proportionalen Anstieg der Umweltfolgen zu verursachen? Eine Antwort steckt in der Architektur dieser Fabrik. Gebaut wurde sie nach Passivhausstandards, mit einer Struktur aus kohlenstoffarmem Beton und recyceltem Armierungsstahl, zum Großteil aber in Massivholzbauweise mit einer Fassade aus karbonisiertem Holz, die insgesamt 1.400 Tonnen Kohlendioxid speichern. Fast 900 Solarpanels auf dem begrünten Dach versorgen das Werk mit Elektrizität. Beheizt wird es mit Geothermie und Wärmepumpen, die die Abwärme der Maschinen nutzbar machen. Wasser, das im Herstellungsprozess benötigt wird, wird zu 95 Prozent wieder aufbereitet. Sägespäne und Holzschnitzel werden im lokalen Biomassekraftwerk verheizt. Für seinen ehrgeizigen Ansatz erhielt der Neubau das Prädikat „BREEAM Outstanding“ und gilt seither als umweltfreundlichste Möbelfabrik der Welt., bewahrt Geschichten und übersetzt die spirituelle Bedeutung des Ortes in eine gebaute Form. Damit wird Architektur selbst zu einem Medium, das Brücken schlägt – zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen menschlichem Eingriff und natürlichem Wachstum.

Nachahmung erwünscht

Erstaunlich ist, wie offen sich Vestre dabei in die Karten schauen lässt. Mehrmals pro Woche kündigen sich Besuchsgruppen an. Interessierte und Schulklassen werden durch die Produktionsbereiche geführt, die sich, angeordnet um einen zentralen Lichthof, in je einem der vier Gebäudeflügel befinden: die Pulverbeschichtung, die Holzverarbeitung, die Montage und das Lager samt Auslieferung. Ein echtes Erlebnis ist die Dachterrasse, die – getreu des Jedermannsrechts – rund um die Uhr zugänglich ist und die Besucher*innen auf Augenhöhe mit den Baumwipfeln bringt. Anschließend geht es über eine Wendelrutsche wieder nach unten und damit, im übertragenen Sinne, zu den Ursprüngen von Vestre.

Denn mit Spielgeräten, einer Rutsche in der Küstenstadt Haugesund, wo Vestre 1947 gegründet wurde, nahm die Ausrichtung des Unternehmens ihren Anfang: Zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als das von Armut geprägte Norwegen um den Wiederaufbau des Landes rang, begann der Seemann und Mechaniker Johannes Vestre (1910–2003) in einer ehemaligen Militäranlage damit, funktionale Gegenstände aus Metall herzustellen. Stadtplaner*innen waren es, die bei ihm Spielgeräte in Auftrag gaben – erst für den örtlichen Park, bald auch für die Stadt Bergen und viele weitere Parks im ganzen Land. Es folgten Abfalleimer und schließlich auch Parkbänke, das heutige Kerngeschäft der inzwischen international agierenden Marke.

Lebenszykluskosten berechenbar machen

Gerne betont Vestre, wie es mit seinen ikonischen Designs zur Gestaltung von urbanen Begegnungsorten beiträgt – von der norwegischen Kleinstadt hin zum Times Square in New York. Mindestens genauso gerne betont das Unternehmen sein Engagement für Umweltfragen (und verleiht dem, siehe oben, sogar architektonisches Zeugnis). Die Botschaft: Wer sich bei der Planung öffentlicher Räume, Schulhöfe oder Wohnanlagen für Produkte von Vestre entscheidet, profitiert von höchsten Nachhaltigkeitsstandards und der Gewissheit, dass etwa 90 Prozent der Wertschöpfung in den Händen der Marke liegen. Der Stahl wird im eigenen Werk im nahegelegenen schwedischen Torsby bearbeitet. Alle verwendeten Holzsorten – Kiefer, Kebony-Eiche und Weiß-Esche – sind FSC-zertifiziert. Für die farbige Pulverbeschichtung der Aluminium- und Stahlkomponenten kommen ausschließlich lösungsmittelfreie Farben zum Einsatz.

Gut 500 Produkte im Sortiment tragen den Schwan, das Nordische Umweltzeichen, eine der strengsten Zertifizierungen weltweit. Für jedes Produkt sind die EPD-Werte für Kohlendioxidemissionen und Energieverbrauch verfügbar. Doch nicht nur die Umweltdeklaration, sondern auch das Versprechen der hohen Haltbarkeit der Möbel geben Anhaltspunkte zur Bemessung der gesamten Lebenszykluskosten.

Fossilfreie Zukunft

2024 ging Vestre noch einen Schritt weiter: Als weltweiter Vorreiter – wie auch die Automobilmarke Volvo – setzt der Außenmöbelhersteller im industriellen Maßstab auf fossilfreien Stahl. Dieser wird von der schwedischen Firma SSAB geliefert, die in ihrem Produktionsverfahren Kohle und Koks durch fossilfrei erzeugten Wasserstoff ersetzt. Das erste Produkt aus dem qualitativ gleichwertigen Material ist die Sitzbank „Tellus“. Entworfen wurde sie von der schwedischen Designerin Emma Olbers, die sich in ihrer Arbeit konsequent auf eine Gestaltung innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen fokussiert.

Seit diesem Jahr werden weitere Produkte optional aus fossilfreiem Stahl angeboten. Die Zukunftspläne sind ambitioniert: Wird heute nur ein verschwindend geringer Teil der Kollektion aus dem emissionsarmen Metall hergestellt, so soll schon 2030 das gesamte Sortiment darauf umgestellt sein. Ziel ist es, dadurch Dreiviertel der für den Stahl aufgebrachten Kohlendioxidemissionen einzusparen. Für einen Betrieb, der neben Hölzern fast ausschließlich mit Stahl arbeitet, wäre das eine Menge. Und für Städte, Gemeinden und Immobilienentwickler, die in gemeinschaftlicher Anstrengung lebenswerte Stadträume schaffen wollen, ohne dabei die Klimafolgen der – nunmal erforderlichen – Produktion auf den Schultern nächster Generationen abzuladen, wäre es ein bislang alternativloses Angebot.

Nachhaltigkeit per Design

Lässt sich nicht auch generell auf Stahl zugunsten energieärmerer Werkstoffe verzichten? „Die Kombination aus widerstandsfähigem Stahl und zertifizierten Hölzern gehört zur gestalterischen DNA unserer Marke“, erklärt die Geschäftsführerin der Vestre GmbH Julia Pültz, die wir am deutschen Firmensitz in Berlin-Mitte treffen. „Für uns stehen eine lange Haltbarkeit der Möbel und, falls nötig, eine über Jahrzehnte garantierte Reparierbarkeit im Fokus.“ Auch der platzsparende Transport der Möbel spiele eine wichtige Rolle. Und sollte eine Stadt die Möbel nach Jahren ersetzen wollen, bietet Vestre eine Rücknahme der Produkte an, um diese aufzuarbeiten und an anderer Stelle wieder einsetzen zu können.

Einen weiteren Beitrag leistet das Unternehmen, indem es in Oslo und bald auch in manchen US-Städten Wartungsverträge mit Stadtverwaltungen abschließt und eigene sogenannte Maintenance-Teams in die Parks schickt, um die Möbel zu pflegen. Eine Besonderheit dabei ist, dass diese Tätigkeit von Menschen ausgeübt wird, die aus unterschiedlichen Gründen vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Damit unterstreicht Vestre sein zusätzliches Engagement für eine soziale Nachhaltigkeit.

Natürlich trägt auch das Design selbst eine zentrale Rolle bei der Aufgabe, Außenräume lebenswerter zu gestalten. So gehören neben Parkbänken, Picknick-Tischen, Abfallbehältern oder Parklets zahlreiche modulare Stadtmöbelsysteme zum Portfolio, die zum Innehalten und zum Perspektivwechsel anregen, die Schulhöfe abwechslungsreicher und topografisch spannungsvoller wirken lassen können. Für ein großes Schulprojekt in Berlin hat der Landschaftsarchitekt Nikolai Soyka unlängst ein System aus asymmetrischen Objekten mit teils schrägen Sitzelementen entwickelt, das sich in unzähligen Variationen arrangieren lässt. Auf der Suche nach einem geeigneten Produzenten traf Soyka bei Vestre auf offene Ohren – und findet sein System nun als Serienprodukt „Unity“ in der Kollektion des Unternehmens wieder. Vorgestellt wurde es zu den diesjährigen 3daysofdesign in Kopenhagen. Neben Sitzmodulen gibt es Pflanzgefäße und Rankhilfen, die einer weiteren Notwendigkeit im Zeitalter des Klimawandels nachkommen: nämlich Biodiversität und ein Stück mehr kühlendes Grün in unsere hoffnungslos versiegelten Innenstädte zu holen.

Buch – Architektur für eine grünere Zukunft

Making The Plus

Mit „Making The Plus“ dokumentiert Vestre gemeinsam mit den Architekt*innen von BIG (Bjarke Ingels Group) den Bau der „nachhaltigsten Fabrik der Welt“ – mitten in den norwegischen Wäldern. Das Buch begleitet den Entstehungsprozess mit Aufnahmen des Fotografen Einar Aslaksen und zeigt, wie Architektur, Industrie und öffentlicher Raum gemeinsam neu gedacht werden können.

Herausgegeben von Marianne Preus Jacobsen, Vestre AS, zusammen mit Annahita Kamali und Florian Böhm (Co-Herausgeber)
Berlin, Hatje Cantz, 2024
208 Seiten, 170 Fotos
ISBN 978-3-7757-5423-1
48 Euro

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